Zu Karl Popper
“Dass die menschlichen Kenntnisse unvollständig seien und es stets Unsicherheiten gebe, gehört heutzutage zu den beliebtesten Gemeinplätzen in der öffentlichen Debatte. Wörtlich genommen ist es richtig: Wäre es nicht so, dann könnten alle Forschungsinstitute schließen, weil man ja schon alles wüsste. Wenn nichts weiter damit gesagt sein sollte, wäre es so banal, dass es niemand eigens aussprechen würde. Es geht also bei solchem Gerede immer um etwas anderes, nämlich um die Abwertung und Relativierung von Wissenschaft überhaupt. Wäre es in diesem Sinn richtig, so müssten ebenfalls alle Forschungsinstitute schließen, denn die könnten dann sowieso nichts herauskriegen.” schrieb ich in meinem Buch zum Klima (S.93) Ich will im Folgenden auf diese hier angesprochene, für das heutige geistige Klima typische Haltung eingehen, indem ich die Theorien von Karl Popper, der ja als deren Mentor gilt, bespreche.
Gesellschaftswissenschaftler, die in der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule stehen, sind Karl Popper gegenüber bekanntlich sehr kritisch eingestellt, wobei im Fokus von deren Kritik allerdings nicht so sehr der oben angesprochene Wissenschafts-Relativismus steht, sondern sein als zu platt empfundener Empirismus. Es wird dabei oft gesagt, die Poppersche Theorie sei von der Vorgehensweise der Naturwissenschaften inspiriert und könne keine den Geisteswissenschaften angemessene Methodik begründen. Meiner Meinung nach liefert Popper allerdings weder für die Naturwissenschaften noch für die Geisteswissenschaften brauchbare Erkenntnisse. Um das zu unterstreichen, möchte ich in den nachfolgenden kritischen Betrachtungen zu Popper gerade Beispiele aus den Naturwisenschaften ins Zentrum stellen.
Kritische Betrachtungen zu Popper
Poppers Grundthese ist, die ganze Wissenschaft bestünde nur aus Hypothesen, die man niemals verifizieren, sondern allenfalls falsifizieren könne. Aber Moment mal: Ist es angesichts der Erfolge der auf Naturwissenschaft gegründeten Technik nicht eine steile Behauptung, dass jene nur aus unbeweisbaren Hypothesen bestehen soll? Ist es wirklich so, dass wir uns alle täglich auf technische Einrichtungen verlassen, ja unser Leben von ihnen abhängig machen, die doch nur auf lauter Vermutungen und unbewiesene Hypothesen gegründet sind? Auch von Popper selbst ist nicht überliefert, dass er sich da anders als alle anderen verhalten hätte.
Sehen wir uns die Theorien von Popper näher an.
Popper bezeichnet seine Lehre als „Wissenschaftstheorie“. Schön, man kann alles zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen machen, warum also nicht auch die Wissenschaft selbst. Gewöhnlich beginnt die wissenschaftliche Befassung mit einem Gegenstand damit, dass man dessen reale Erscheinungsformen zur Kenntnis nimmt. Nicht so in Poppers Wissenschaftstheorie. Er geht von einem frei erfundenen Beispiel aus, nämlich dem mit den weißen Schwänen. Dieses lässt sich so zusammenfassen:
„Alle Schwäne sind weiß“, ist ein wissenschaftlicher Satz, der nie zu verifizieren ist, da man dazu alle Schwäne der Welt gesehen haben müsste. Er wurde aber dadurch falsifiziert, dass man in Australien schwarze Schwäne entdeckte.1
Nun findet sich allerdings der Satz „Alle Schwäne sind weiß“ bestimmt nirgends in der wissenschaftlichen Literatur, schon allein deshalb nicht, weil auch schon vor der Entdeckung schwarzer australischer Schwäne der Blick auf einen jungen Schwan genügt hätte, ihn zu „falsifizieren“. Gehen wir dennoch genauer darauf ein: Wie wusste man denn, dass es sich bei dem bisher unbekannten schwarzen Vogel in Australien um einen Schwan handelt? Das führt uns in das Gebiet der systematischen Zoologie, also die Erfassung und Einteilung der Tierarten gemäß ihrer natürlichen Verwandtschaft. Dort ist man sich allerdings einig, dass die Gefiederfarbe von Vögeln nicht als Indikator für deren Verwandtschaft geeignet ist, da diese zwischen einander sehr nahestehenden Arten, ja sogar innerhalb einer Art, oft stark variiert. Aus diesem Grund kann der Satz „Alle Schwäne sind weiß“ nicht wirklich der Wissenschaft zugerechnet werden, selbst wenn auch junge Schwäne weiß wären. Was daran allenfalls wissenschaftlich ist, geht schon als Voraussetzung in ihn ein, nämlich was unter einem Schwan zu verstehen ist.
Für Popper ist es allerdings ein typischer wissenschaftlicher Satz. Denn ohne sich zu bemühen, dies zu „verifizieren“ oder zu „falsifizieren“, geht Popper davon aus, dass wissenschaftliche Sätze immer „Allsätze“ (wie er es nennt) sind, also die Form „Für alle X gilt y“ haben2. So schreibt er, dass
„… die naturwissenschaftlichen Theorien, die Naturgesetze, die logische Form von Allsätzen haben…“3
Popper knüpft daran umfangreiche mit Formeln der formalen Logik gespickte Ausführungen an, die diese Grundsatzbehauptung freilich nicht besser machen, da sie sie nicht beweisen, sondern nur weiter auswalzen. Denn nicht ohne Grund haben wissenschaftliche Sätze meist nicht die Form von Allsätzen. Jedenfalls wäre es allenfalls in recht gekünstelter Weise möglich, Sätze wie
„Salzsäure reagiert mit Kalk zu Kalziumchlorid und Kohlensäure“
„Gold hat eine höhere Dichte als Silber“
„Die Lichtgeschwindigkeit ist unabhängig von der Bewegung der Lichtquelle“
in die Form „Für alle X gilt y“ zu bringen. Vielmehr drücken wissenschaftliche Sätze die zu einem Begriff gehörigen Bestimmungen aus, wozu es keineswegs nötig ist, diesen in eine Ansammlung von unter ihn fallende Einzelgegenständen aufzulösen. Popper behandelt die Begriffe jedoch als willkürliche Zusammenfassungen von nach irgendwelchen Kriterien ausgewählten Einzelgegenständen, so dass sich daraus freilich niemals Bestimmungen ableiten lassen, die über diese Kriterien hinausgehen.
Stellen wir uns einmal vor, man würde die Maxwellschen Gleichungen in die Form von Allsätzen bringen, indem man sie in „Für alle elektromagnetischen Felder gilt …“ einkleidet1. Dann würde sich die Frage erheben, was denn unter elektromagnetischen Feldern zu verstehen wäre. Schließlich ist das ja nicht etwas, was jeder aus der Alltagserfahrung kennt, sondern diesen Begriff zu fassen, ist seinerseits schon Resultat einer ganzen Wissenschaftsgeschichte. Der Gang der Wissenschaft war dabei, nicht anders als in vergleichbaren Fällen, dass man durch die Analyse der einschlägigen Beobachtungen Schritt für Schritt Abstraktionen wie Ladung, Strom, Magnetismus, Induktion etc. gemeinsam mit den zugehörigen Gesetzmäßigkeiten erarbeitete, und diese schließlich im umfassenden Begriff des elektromagnetischen Felds und den dafür geltenden Gleichungen zusammenführte.
Hier zeigt sich – ebenso wie es sich oben ergeben hat, als wir versuchten, den Schwanen-Satz als wissenschaftlichen Satz ernst zu nehmen – dass, wenn man es so darstellen will, als ließe sich die ganze Wissenschaft in Sätze der Form „Für alle X gilt y“ kleiden, die wesentliche wissenschaftliche Leistung eher verborgen wird, denn sie liegt darin, den Begriff X zu fassen. Natürlich ist es richtig, dass dabei stets die Erfahrung der Ausgangspunkt ist: aus ihrer Analyse werden die Begriffe gewonnen. Aber sobald man den Begriff gewonnen hat, ist man darüber auch schon hinaus. Der gewonnene Begriff wird nun seinerseits zu Grundlage, Ausgangspunkt und Mittel für weitere Erfahrungen und deren Analyse. Dagegen ignoriert die Poppersche Forderung nach einer ständig erneuten Überprüfung bereits gewonnener Kenntnisse diesen Fortschritt; es ist als sollte man nach vollbrachter Tat stets erneut zum Ausgangspunkt zurückkehren. Das tun höchstens die Studenten im physikalischen Praktikum – aber nicht, um die Theorie zu überprüfen, sondern um selbst - beginnend beim Ausgangspunkt - die Theoriebildung nachzuvollziehen und sich nebenbei im Handwerk des Experimentierens zu üben.
Für Popper gerät die Frage, wie die Wissenschaft denn zu ihren Begriffen kommt, erst gar nicht ins Blickfeld. Er tut so, als könnte man sie einfach als vorgegeben voraussetzen. Er tritt im Nachhinein zum schon erreichten Stand der Wissenschaft dazu, behauptet, diese bestünde aus lauter Allsätzen, bezeichnet diese als Hypothesen und fordert nun erstens, diese für alle unter sie fallenden Einzelfälle zu überprüfen, bemerkt dann zweitens, dass das gar nicht möglich ist, weil man damit nie an ein Ende kommt, so dass drittens bewiesen wäre, dass man gar nichts wissen könnte.
Vielleicht wird jemand einwenden, dass die oft sehr umfangreichen Versuchsreihen, die mitunter den Alltag in der naturwissenschaftlichen Forschung bestimmen, doch ganz der Popperschen Vorstellung von Überprüfung an Einzelfällen entsprechen. Der Forscher widerlegt das selbst, sobald er darangeht, statistische Auswertungen zu machen. Denn die Statistik hat nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass es sich um prinzipiell gleichartige Vorgänge handelt. Etwa wenn man durch Bildung des Mittelwerts zufällige Verfälschungen eliminieren will, oder wenn es darum geht, welche Folgen Variationen der Versuchsbedingungen haben. Würde man – wie es das Bild von der Überprüfung an Einzelfällen unterstellt - damit rechnen, dass es sich nur um Kollektionen möglicherweise prinzipiell unterschiedlicher Einzelvorgänge handelt, hätte die Statistik so wenig Sinn als wollte man Äpfel und Turnschuhe zusammenzählen. Es ist also bereits der Ausgangspunkt der ganzen Unternehmung, dass die zu beobachtenden Einzelfälle unter eine begrifflich gefasste Gemeinsamkeit fallen. Die Untersuchung dient dann dazu, dafür geltende Bestimmungen zu ermitteln und durch deren Analyse den begrifflichen Rahmen weiter zu entwickeln.
Fazit: Ausgangspunkt, Ziel und Resultat von Poppers Theorie sind ein und dasselbe: Wissenschaft durch vorgeblich selbst wissenschaftlich begründete Zweifel zu relativieren. Das macht ihn zum Wortführer jeder wissenschaftsfeindlichen Gesinnung.
*****************************************
1 Das wäre im Übrigen nicht unproblematisch, denn es würde die Frage aufwerfen, wo denn das eine Feld aufhört und das andere anfängt.
1 Ich weiß nicht, ob dieses Beispiel von Popper selbst stammt. In der Einleitung zur „Logik der Forschung“ führt er es so an, als könnte man es als bekannt voraussetzen. Offenbar war es damals schon allgemein im Umlauf. Da Popper es zustimmend anführt, macht das aber hier keinen Unterschied.
2 Popper führt am angegebenen Ort als Beispiel „Alle Raben sind schwarz“ an
3 K. R. Popper „Die Logik der Forschung“ Wien 1935, S. 33