“Externalisierung” und “Imperiale Lebensweise”

Dass ein krasses Gefälle zwischen dem Reichtum in den Industrienationen und dem unsäglichen Elend in den armen Ländern besteht, ist allgemein bekannt. Es ist auch nicht schwer zu erkennen, dass es die Wirtschaftsweise in den reichen Ländern – also der Kapitalismus - ist, die die Misere der armen Länder verursacht hat und weiter verursacht. Sich darüber zu empören, ist angebracht und lässt als Konsequenz nur die Gegnerschaft gegen diese Wirtschaftsweise zu.

Etwas ganz anderes ist es allerdings, sich als Angehöriger der Industrienationen wegen dieser weltweiten Ungleichheit beschämt zu fühlen und sich Gedanken zu machen, die nicht so sehr den Ursachen auf den Grund gehen als vielmehr dieses Gefühl kultivieren wollen. So wird Denken zur Fortsetzung des Gefühls mit anderen Mitteln. Auf diesem Weg kommt man dazu, alle Angehörigen der reichen Länder für die globale Ungerechtigkeit regelrecht in moralische Sippenhaft zu nehmen – und damit von den wirklichen Gründen abzulenken.

Dieser Fehlschluss wurde zu veritablen soziologischen Theorien ausgebaut; hier gewannen die Theorie von der „Externalisierungsgesellschaft“ (Stefan Lessenich) und im Anschluss daran die Theorie von der „Imperialen Lebensweise“ (Markus Brand und Ulrich Wissen) eine bis heute anhaltende Popularität.

Für eine ausführliche Darstellung und kritische Würdigung dieser Theorien möchte ich auf einen Artikel verweisen, der hier verlinkt ist.1

Hier soll nur ergänzend und verdeutlichend auf die typische Argumentationsweise bei Lessenich2 eingegangen werden. Das passt insofern gut zum Thema „Geistiges Klima“ als es einen Eindruck vermittelt, was heutzutage so alles als Wissenschaft gilt.

Ausgangspunkt und zugleich zentraler Begriff ist die „Externalisierung“. Was versteht Lessenich darunter? Wir lesen:

»Externalisieren« bezeichnet den Vorgang, bei dem etwas aus dem Inneren nach außen verlagert wird. Was üblicherweise Organisationen zugeschrieben wird, etwa Unternehmen, die nicht für die von ihnen verursachten Umweltschäden aufkommen und von dieser Abwälzung der Kosten auf unbeteiligte Dritte profitieren, lässt sich auch auf größere Sozialeinheiten übertragen: Die reichen, hoch industrialisierten Gesellschaften dieser Welt lagern die negativen Effekte ihres Wirtschaftens auf Länder und Menschen in ärmeren, weniger »entwickelten« Weltregionen aus.“ (S. 24)

Ist es denn so, dass Gesundheitsschäden in der Umgebung der Fabrik oder Hungersnöte in den südlichen Ländern etwas wären, was erst im „Inneren“ der Fabrik beziehungsweise der Industrienationen entstehen und dann „nach außen verlagert“ würde? Nein, sie sind von vornherein „außerhalb“ angesiedelt, auch wenn sie aus Gründen zustande kommen, die in der Wirtschaftsweise im „Inneren“ liegen. Es bedeutet bereits den ersten Schritt weg von der Frage nach den Gründen zu tun, wenn hinsichtlich der „verursachten Umweltschäden“ nur danach gefragt wird, wer denn dabei für die Kosten aufkommen würde. Ganz explizit schreibt Lessenich an anderer Stelle:

Das klassische Beispiel für negative externe Effekte von Unternehmenshandeln stammt aus dem Feld der Umweltökonomie. […] Vielleicht werden […] Abgase ungefiltert in die Luft geblasen. Die entstehenden Kosten für […] die Behandlung von Atemwegserkrankungen der Anwohnerinnen werden folglich ausgelagert – sie fallen anderswo an und müssen von anderen getragen werden, im Zweifel von der »Allgemeinheit« bzw. der »öffentlichen Hand«.“ (S. 44)

Es ist also keineswegs nur böswillige Polemik, wenn man Lessenichs Standpunkt mit den Worten“Die Fabrikabgase machen dich krank? Das wäre doch weiter nicht schlimm, wenn nur der Fabrikbesitzer die Arztkosten übernähme.“ charakterisiert - denn es steht fast wörtlich so da.

Das Prinzip ist: Alle Schäden werden unter der Hand zu Kosten gemacht. Was der Kapitalist, der die Umwelt schädigt, sich einspart, sind in der Tat Kosten, denn er richtet seine Produktion so ein, weil das weniger kostet als Alternativen, die ohne oder mit weniger Umweltschäden einhergehen würden. Aber was er damit andernorts verursacht, sind erst einmal Schäden. Die sofort unter der Hand in Kosten „umzurechnen“ setzt bereits eine recht eigentümliche Perspektive voraus. Unausgesprochen steckt da die Annahme dahinter, Umweltschäden ließen sich alle beseitigen oder neutralisieren, wenn man nur wollte und die Kosten dafür aufbrächte.

Wie um von dieser offensichtlichen Begriffsverschiebung abzulenken, redet Lessenich an anderen Stellen allgemeiner von „negativen externen Effekten“. Aber sobald weitere Schlüsse anstehen, verwandelt er es doch wieder in Kosten, die dann z.B. die „öffentliche Hand“ zu tragen habe. „Externalisierung“ ist und bleibt also eine unpassende Etikettierung des Geschehens, die von einer richtigen Erklärung eher wegführt, als dazu beizutragen. Das, was der Verursacher sich einspart, ist eben etwas grundsätzlich anderes, als das, was die Opfer der „Externalisierung“ zu tragen haben.

Nicht besser sieht es aus, wenn Lessenich auf die „Externalisierung“ im Verhältnis zwischen reichen und armen Ländern zu sprechen kommt. Da kommen ganz disparate Dinge zur Sprache: Ungleicher Tausch, Ausbeutung von Rohstoffen, Landnahme, Billiglöhne, Verpestung von Landstrichen, Müllexport und anderes mehr. Lauter unschöne Dinge, deren einzige Gemeinsamkeit ist, dass für die eine Seite Schaden, für die andere Nutzen konstatiert werden kann, wobei ausgeklammert bleibt, welche der doch sehr unterschiedlichen Schichten und Bevölkerungsteile innerhalb sowohl der reichen wie auch der armen Länder in welcher Weise daran beteiligt sind.

In keinem dieser Fälle wird näher untersucht, um was es geht; stattdessen füllen Beschreibungen von Beispielen die Seiten, wobei eine begriffliche Analyse der in diesen Beispielen dargestellten Fakten nicht stattfindet, jedenfalls nicht, wenn man nicht den bloßen Hinweis auf eines der genannten Stichwörter bereits als Analyse gelten lassen will. Nehmen wir den „ungleichen Tausch“ (S. 38, u.a.): Wonach bemisst Lessenich, ob eine Handelsbeziehung einen ungleichen Tausch darstellt? Schließlich gelten die Weltmarktpreise für die reichen und die armen Länder gleichermaßen. Wir finden an der angegebenen Stelle lediglich recht vage Hinweise auf „Machtverhältnisse“ mit denen die ungleichen Tauschverhältnisse aufrechterhalten werden. Aber wie geht das vor sich? Es sieht eher danach aus, als wäre das Ganze vom Resultat her gedacht: Angesichts des Elends im Globalen Süden erscheint Lessenich, nicht anders als den meisten seiner Leser, die Rede vom ungleichen Tausch von vornherein plausibel. Warum? Weil in deren Köpfen das Credo der Markt-Verehrer fest verankert ist, wonach bei korrektem, also „gleichem“ Tausch alles ideal und paletti wäre, so dass die Misere der armen Länder per se schon das Vorliegen von ungleichem Tausch beweisen würde.

Was ist das Ziel, das Lessenich mit alledem verfolgt? Er hebt hervor, dass es ihm um eine „konsequente Soziologisierung der Analyse“ (S. 47) gehe.

Ein soziologischer Blick auf jene Phänomene, für die der Begriff der Externalisierungs­ge­sellschaft hier stehen soll, lässt vor allem deutlich werden, dass Externalisierung etwas mit sozialer Praxis zu tun hat: mit der »ganz normalen« Lebensführung »durchschnittlicher« Menschen.“ (S. 47)

Wieso „soziologischer Blick“? Es ist doch von nichts anderem als von gesellschaftlichen Dingen die Rede; dann wird ein Blick darauf wohl ein „soziologischer“ Blick sein. Wieso muss das eigens betont werden? Sehen wir es uns weiter an: Dass ein „soziologischer Blick“ auf die Externalisie­rung (die doch immerhin schon der grammatischen Form nach ein Prozess ist) zutage fördert, dass es sich da um „soziale Praxis“ handelt, das ist – beim Tautos, dem Gott des Zirkels! - wahr. Aber wie geht der Schritt von da weiter zu den durchschnittlichen Menschen mit ihrer ganz normalen Lebensführung? Lessenich „stellt es“ lediglich „fest“:

In dem Wissen um jene Strukturen und Mechanismen, die Externalisierung ermöglichen, gewinnt die Feststellung, dass wir in unserer Alltagspraxis permanent am Externalisieren sind, dass es also nicht zuletzt wir selbst sind, die die Externalisierungsgesellschaft am Laufen halten, einen mehr als nur moralisch appellativen Charakter.“ (S. 50, „selbst“ i. O. herv.)

Eine solche „Feststellung“ plausibel erscheinen zu lassen, war wohl von vornherein die geheime Absicht bei der Rede vom „soziologischen Blick“.

Fassen wir zusammen:

1) Lessenich stellt verschiedene, z.T. recht disparate Phänomene unter dem Begriff „Externalisie­rung“ zusammen.

2) Weil so viel Externalisierung vorkommt, charakterisiert er die Gesellschaft als „Externalisierungsgesellschaft“.

3) Weil wir alle zu dieser „Externalisierungsgesellschaft“ dazugehören, meint er, dass wir alle „permanent am Externalisieren“ seien und diese Gesellschaft damit „am Laufen halten“.

4) Deswegen müssen wir uns alle solche moralischen Appelle gefallen lassen.

Jetzt kann es uns nicht mehr wundern, dass Lessenich begrifflich so unklar ist und stilistisch oft ins Schwafeln gerät. Denn die Quintessenz seiner Schrift besteht in Schlussfolgerungen, die sich nur bei ausreichender Verschwommenheit einigermaßen plausibel darstellen lassen.


1 „Der Kapitalismus und der globale Süden - Anmerkungen zu Brand/Wissen und Lessenich“, erschienen in „Z.“ Heft 115, Frankfurt/M 2018

2 Stephan Lessenich „Neben uns die Sintflut – Wie wir auf Kosten anderer leben“ 2. Auflage Piper, München 2018

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